Ein Programmhefttext muss die Axt sein
für das gefrorene Meer in uns. Was Franz Kafka über das Buch
schrieb, kann, wenn wir heute den besten Ankündigungstext des 100° Festivals
2014 auszeichnen, auch nicht verkehrt sein. Wer in der vom wissenschaftlichen Fachdiskurs
bisher eher stiefmütterlich behandelten Form lediglich ein Marketing-Tool
sieht, verkennt die spezifischen Qualitäten, die das Genre bietet: Der
literarische Möglichkeitsraum erstreckt sich hier nicht ins Unendliche, sondern
ist streng auf 700 Anschläge begrenzt. Eine Einschränkung, die die Autor/innen
vor eine Herausforderung stellt und Präzision, Konkretion und eine
schweinegeile Idee verlangt: Mit einem andauernden lauwarmen Föhnlüftchen hat
noch niemand einen Ozean aufgetaut. Wie ein Axthieb muss der Text einschlagen,
muss das gefrorene Meer in uns gleichsam zerbersten, unsere Augen und Seelen für
das nachfolgend Hinzukommende – die Aufführung – weiten.
Lobende Erwähnungen
Bevor
wir gleich den Preis der 100WORT-Jury für den Besonders Lobenswerten Ankündigungstext
– BLA – vergeben, möchten wir zwei Texte lobend erwähnen und ihre Autoren mit Gutscheinen
für das präziseste aller Getränke belohnen: Wodka-Shots.
Mit
der ersten Schnapsrunde zeichnen wir einen Text aus, der uns anspricht. Das
lyrische Wir richtet sich unmittelbar an ein Du, die Kluft zwischen Leser und Autor wird via Kettenmail
leichtfüßig überquert. Das Motiv des Zusammenführens, der Begegnung, wird auf
inhaltlicher Ebene fortgeführt: Okkultismus, Jane Fonda Workout und die
Erlösung des zeitgenössischen Tanzes – spielerisch bringt der Text zusammen,
was nicht zusammengehört. Wir bleiben verhext zurück. Eine Lobende Erwähnung
der Jury geht an Flesh System für #Abyss.Witchroulette.
Please come to the stage.
Weiterhin
möchten wir einen Text lobend erwähnen, den wir mögen. Der Text zeigt nicht wie, sondern was gemocht wird: Die beiden Mögenden breiten ihr Schwärmen nicht
in selbstverliebter Eitelkeit aus, sondern überlassen den knappen Raum in einem
hingebungsvollen Akt der Agape dem Gegenstand ihres Mögens, auf dass auch wir
seiner ansichtig werden können. Wenn wir diesen Text – dieses Bild – betrachten,
sehen wir Regenbögen im Himmel – wir werden ins Meer tanzen – die zweite
Schnapsrunde geht an Gudmundsson und Schäfer für St. Tropez.
Preisverleihung: Gudmundsson und Schäfer |
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BLA-Preis der Jury
Wir haben uns für einen Text
entschieden, der schlicht ist, und lakonisch.
Weil wir uns darüber gefreut
haben, wie fein er seine Mittel dosiert.
Dass er von etwas spricht,
dass man sich vorstellen kann, ohne es gleich zu kennen und dafür, dass man es
kennen lernen will.
Wir haben einen Text
gewählt, der undramatisch in acht Zeilen eine Geschichte erzählt, die genug
Einfallschneisen für alles Mögliche hat.
Der erzählt, ohne zu viel zu
verraten, eine Ästhetik andeutet, ohne sie zu erklären.
Wir haben diesen Text auch
ausgesucht aus Dankbarkeit dafür, dass er nicht intellektuell ist, nicht eitel
und nicht überladen, dass er kein sophisticated
Schlagwort- und Phrasen-Bashing veranstaltet.
Weil er einem keine üblen,
zusätzlichen Knoten in die Synapsen dreht.
Wir haben einen Text
ausgesucht, der sagt: schlicht und einfach, nicht mehr und nicht weniger.
Wir haben den Text dafür
ausgesucht, dass er genau in der Mitte ein Bild setzt, das im Kopf stehen
bleibt, an Tag 1, Tag 2, Tag 3 und Tag 4 des Festivals.
Und dafür, dass dieses Bild
ein riesiger Bauch ist, der beim Rückenschwimmen aus dem Wasser schaut.
Wir haben einen angenehmen
Text ausgesucht.
Wir haben einen schönen Text
ausgesucht.
Der Preis der 100WORT
Blog-Redaktion für den besten Programmhefttext geht an:
cobrajulianfrancis.cobra
für den Text
performance
ich bin mit meinem opa im asheville country club, weil er seine gasrechnung nicht
mehr zahlen möchte, hat er sich beim fitnessclub angemeldet, wo er für 40
dollar im monat schwimmen, duschen und sich in der sauna ausruhen kann. er
schwimmt gerne rücken, so entspannt. er hat einen riesigen bauch, der aus dem
wasser schaut. alles ist nicht mehr, wie es einmal war. er hatte sein
erfolgreichstes jahrzehnt in den 80ern. bis dahin misserfolg, danach
misserfolg. nun hat er das gas abgestellt und nun jagen ihn die fehlenden
sozialen kontakte. nun geht er in die sauna.