Montag, 24. Februar 2014

Wir haben einen angenehmen Text ausgesucht. Laudatio zur Vergabe des BLA-Preises 2014



Ein Programmhefttext muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Was Franz Kafka über das Buch schrieb, kann, wenn wir heute den besten Ankündigungstext des 100° Festivals 2014 auszeichnen, auch nicht verkehrt sein. Wer in der vom wissenschaftlichen Fachdiskurs bisher eher stiefmütterlich behandelten Form lediglich ein Marketing-Tool sieht, verkennt die spezifischen Qualitäten, die das Genre bietet: Der literarische Möglichkeitsraum erstreckt sich hier nicht ins Unendliche, sondern ist streng auf 700 Anschläge begrenzt. Eine Einschränkung, die die Autor/innen vor eine Herausforderung stellt und Präzision, Konkretion und eine schweinegeile Idee verlangt: Mit einem andauernden lauwarmen Föhnlüftchen hat noch niemand einen Ozean aufgetaut. Wie ein Axthieb muss der Text einschlagen, muss das gefrorene Meer in uns gleichsam zerbersten, unsere Augen und Seelen für das nachfolgend Hinzukommende – die Aufführung – weiten.

Lobende Erwähnungen

Bevor wir gleich den Preis der 100WORT-Jury für den Besonders Lobenswerten Ankündigungstext – BLA – vergeben, möchten wir zwei Texte lobend erwähnen und ihre Autoren mit Gutscheinen für das präziseste aller Getränke belohnen: Wodka-Shots.

Mit der ersten Schnapsrunde zeichnen wir einen Text aus, der uns anspricht. Das lyrische Wir richtet sich unmittelbar an ein Du, die Kluft zwischen Leser und Autor wird via Kettenmail leichtfüßig überquert. Das Motiv des Zusammenführens, der Begegnung, wird auf inhaltlicher Ebene fortgeführt: Okkultismus, Jane Fonda Workout und die Erlösung des zeitgenössischen Tanzes – spielerisch bringt der Text zusammen, was nicht zusammengehört. Wir bleiben verhext zurück. Eine Lobende Erwähnung der Jury geht an Flesh System für #Abyss.Witchroulette. Please come to the stage.

Weiterhin möchten wir einen Text lobend erwähnen, den wir mögen. Der Text zeigt nicht wie, sondern was gemocht wird: Die beiden Mögenden breiten ihr Schwärmen nicht in selbstverliebter Eitelkeit aus, sondern überlassen den knappen Raum in einem hingebungsvollen Akt der Agape dem Gegenstand ihres Mögens, auf dass auch wir seiner ansichtig werden können. Wenn wir diesen Text – dieses Bild – betrachten, sehen wir Regenbögen im Himmel – wir werden ins Meer tanzen – die zweite Schnapsrunde geht an Gudmundsson und Schäfer für St. Tropez.



Preisverleihung: Gudmundsson und Schäfer
BLA-Preis der Jury
Wir haben uns für einen Text entschieden, der schlicht ist, und lakonisch.
Weil wir uns darüber gefreut haben, wie fein er seine Mittel dosiert.
Dass er von etwas spricht, dass man sich vorstellen kann, ohne es gleich zu kennen und dafür, dass man es kennen lernen will.
Wir haben einen Text gewählt, der undramatisch in acht Zeilen eine Geschichte erzählt, die genug Einfallschneisen für alles Mögliche hat.
Der erzählt, ohne zu viel zu verraten, eine Ästhetik andeutet, ohne sie zu erklären.
Wir haben diesen Text auch ausgesucht aus Dankbarkeit dafür, dass er nicht intellektuell ist, nicht eitel und nicht überladen, dass er kein sophisticated  Schlagwort- und Phrasen-Bashing veranstaltet.
Weil er einem keine üblen, zusätzlichen Knoten in die Synapsen dreht.
Wir haben einen Text ausgesucht, der sagt: schlicht und einfach, nicht mehr und nicht weniger.
Wir haben den Text dafür ausgesucht, dass er genau in der Mitte ein Bild setzt, das im Kopf stehen bleibt, an Tag 1, Tag 2, Tag 3 und Tag 4 des Festivals.
Und dafür, dass dieses Bild ein riesiger Bauch ist, der beim Rückenschwimmen aus dem Wasser schaut.
Wir haben einen angenehmen Text ausgesucht.
Wir haben einen schönen Text ausgesucht.

Der Preis der 100WORT Blog-Redaktion für den besten Programmhefttext geht an:

cobrajulianfrancis.cobra

für den Text

performance
ich bin mit meinem opa im asheville country club, weil er seine gasrechnung nicht mehr zahlen möchte, hat er sich beim fitnessclub angemeldet, wo er für 40 dollar im monat schwimmen, duschen und sich in der sauna ausruhen kann. er schwimmt gerne rücken, so entspannt. er hat einen riesigen bauch, der aus dem wasser schaut. alles ist nicht mehr, wie es einmal war. er hatte sein erfolgreichstes jahrzehnt in den 80ern. bis dahin misserfolg, danach misserfolg. nun hat er das gas abgestellt und nun jagen ihn die fehlenden sozialen kontakte. nun geht er in die sauna.
 

Sonntag, 23. Februar 2014

I'm just a little girl caught in the middle

Kasia Wolinska | Hi Mary

Mary sagt nett „Hi!“ Das ist voll schön, weil man bei Mary alles machen kann, was man halt so gerne macht. Kleine dufte Törtchen essen. Fotoalbum gucken. Auf einer Matratze lungern. Herzkissen auf der Brust zerdrücken. Mary sieht auch hübsch aus, erst in ihrem Löwengesichtspulli, dann in königsblauem Badeanzug und Trainingshose. Lustig, dass sie ihren angezogenen Popo in einer Wanne nass macht. Süß, wie sie so heartbroken säuselt. Es riecht fein nach Seife, weil überall Fußbäder rumstehen, in die man seine Zehen hängen darf. Schuhe musste man eh ausziehen. Nett bei Mary. Mhm.

//fs

Wie Sand durch Hände

Die Kneten | Aus Dauer

Manchmal kann die Zeit schneller vergehen, als gedacht. Die Riesensanduhr, die eigentlich die Aktionsspanne von Aus Dauer abstecken sollte, läuft aus, als eine Performerin versehentlich dagegen stößt. Ein Glücksfall für die Aufführung. Kunstfläche und Theatersportübung weichen einem unverhofften Dialog zwischen Akteuren und Zuschauern: „Will noch jemand etwas sagen? Zeit wäre da.“ „Die analoge ist kaputt, aber die digitale funktioniert ja noch.“ „Hat jemand ein Handy und kann die Zeit stoppen, damit wir wissen, wann wir aufhören müssen?“ „Naja, das Auto ist ja auch noch da, wenns kaputt ist.“ „Gut. Also, schaufeln wir den Sand wieder oben rein!“ 

// fs

Shuttle bei Heiko

 
Heiko und seine fünf Kollegen machen den Shuttleservice zwischen den Spielstätten HAU, Sophiensäle und Ballhaus Ost. Der Urberliner hatte nach der Wende einen traditionellen Bauchkessel, aus dem er Bockwürste an Touristen verkaufte. Solche und andere Geschichten bekommen gehetzte Festivalbesucher zu hören, während sie sicher an die Spielstätte ihrer Wahl gefahren werden. Eine mobile Gemütlichkeit zwischendurch und somit wärmstens zu empfehlen. //mn


Samstag, 22. Februar 2014

Let’s talk about money


Geld ist geprägte Freiheit. Geld kann Leben nicht kaufen. Geld stinkt nicht. Geld ist eine Fiktion. Über Geld zu reden kann uferlos sein. Die Mitglieder der Spielzeitgruppe 12/13 des Freien Theaters Tempus fugit in Lörrach haben ein Spielfeld entwickelt, auf dem sie ihren persönlichen Kampf gegen das Scheitern am Umgang mit dem Geld austragen, die Utopie einer geldlosen Welt erproben können. Die Theaterpädagogen Benjamin Böck und Laura Jacob suchten gemeinsam mit der Gruppe nach einer Form, in der auch mit Halbwissen agiert werden kann: „Bei den ersten Arbeitstreffen zu Money Honey haben wir uns in tausend Fragen verstrickt, beispielsweise was die gängige Konsumkritik angeht.“ Gegen erhobene Zeigefinger haben sie einen Moralbuzzer eingeführt. Nun freut sich die Gruppe darauf, sich beim 100° wiederzutreffen: Seit der letzten Spielzeit, haben sich die am Stück beteiligten Praktikantinnen und Praktikanten, die die Multiplikatorenausbildung bei Tempus fugit absolviert haben, in alle Winde verstreut.

//fs

Freies Theater Tempus fugit
Money Honey
Samstag, 17 Uhr
Ballhaus Ost 

Luftikuss


Svetlana Schwin | Der Kuss

Der Titel der Soloperformance „Der Kuss“ schürt Ängste oder Hoffnungen. Die werden am Einlass befeuert werden: Ob man einen Kaugummi oder Tic Tac konsumieren wolle. Ja, danke, nimmt man lieber mal. Alle drücken sich an der Wand herum, Tanzstundenbenehmen. Die Performerin sitzt in der Mitte im Dunklen, beleuchtet mit einem Spiegel kreisrund ihren Mund. Der macht so, als sei er ein unabhängiges Wesen, ein kleiner Mond oder wabernde Masse, die sich ihres Aggregatszustands nicht sicher ist, Tor zur Außenwelt für kleine Leidenschaftsseufzer. So also sieht knutschen aus, wenn niemand am anderen Zungenende hängt! Die Dielen des Ballhauses knarzen, bei jedem Geräusch vermutet man hinterrücks den Angriff. Er bleibt aus.

//fs

There is a light that never goes out


Christough! & Dänny D. | Eröffnungsparty Ballhaus Ost – Durational Performance für minimal 50 Tänzer

Die Performer Christough! & Dänny D. machen am Eröffnungstag des Ballhaus Ost alles falsch. Anstatt den Fokus der Zuschauer ihres Mammutprojekts von Anfang an auf die vergehende Zeit zu richten, pumpen sie die Masse mit musikalischem Opium voll. Britney Spears, Backstreet Boys und Bad Romance animieren die Teilnehmer zwar zum Tanzen und Trinken, auf die Uhr sieht jedoch niemand. Meditative Zustände kommen höchstens auf der Drogentoilette auf. Unterstützt von einer bunten Lichtshow versuchen die Performer über Stunden hinweg alles, aber auch Perlen der elektronischen und britischen Musik animieren die Zuschauer nicht zum In-sich-Gehen und zur Reflexion. Gegen sechs Uhr geben die Performer erschöpft auf. Von denen, die nicht vorzeitig zu anderen Stücken verschwunden sind, gibt es anerkennenden Applaus. Erfolg sieht allerdings anders aus. Für eine philosophische Veranstaltung viel zu viel Spaß und Alkohol mit zu wenig ernstzunehmendem Inhalt.

//ar

Nazis statt Nudeln

Gruppe International | TÄTERurENKEL 

Mathematik ist nützlich, wenn man über Nazis redet. Nudeln auch. Was uns TÄTERurENKEL sagen will: Wir alle sind Nazis, weil wir Nazivorfahren haben, denn nur Nazis konnten sich fortpflanzen in Deutschland vor 70 Jahren. Das Gespenst der Geschichte sitzt mit uns am Kaffeetisch. Es zu ignorieren, ist unhöflich. Zu nicken, wenn unsere Großeltern sagen "Früher war alles besser", ist monströs. In den Jahren zwischen 1939 und 1945 stirbt laut Mathematik ein Mensch pro 4,6 Sekunden. Uns wird empfohlen, die Opfer mit der Uhr zu zählen: der meditative Effekt sei enorm. Am Ende regnet es Konfetti aus einer Urne. Die Teufel tanzen.

//ar

Light Bondage


Annika Schäfer | Medea

Mit Annika Schäfers Medea zeigt das Ballhaus Ost bei der Eröffnung Mut zur Moderne. Das Stück für drei Menschen und fünf Puppen öffnet sich gegenwärtiger Popkultur. Die drei Performer springen auf den beliebten Fantasybandwagon auf: Drachen, Helden und sogar ein Vampirbiss sind auf der Bühne zu sehen zumindest, wenn Sie so genau hinsehen wie wir. Titelheldin Medea ist gebunden von ihrer Weiblichkeit, sie braucht Iason, um sie zu erlösen und aus ihren Light Bondage Fesseln zu befreien (auch Light Bondage ist sehr aktuell). Er heiratet dann eine andere, also tötet sie ihre beiden Kinder und fliegt auf einem Drachen davon. Hobbits kommen allerdings keine vor. Vielleicht im nächsten Stück.

//ar

Freitag, 21. Februar 2014

Ein bisschen mehr Empathie, bitte!


Normalerweise coacht Horst Gronke Teams in Organisationen und Wirtschaftsunternehmen. Für das Stück COSMOS-1 von Citsaug hat sich der Kommunikations- und Argumentationstrainer mit drei Berliner Performern zum Sokratischen Gespräch zusammengesetzt. Zeitgleich hat sein spanischer Kollege Vander Lemes mit drei Performern aus Barcelona gearbeitet. Beide Gruppen aus Nord und Süd kommen nun zusammen, um auf der Bühne zu verhandeln, wann der Punkt gekommen ist, zu sagen: Jetzt reicht’s!

100WORT: Braucht Europa mehr Empathie?

Horst Gronke: Wir müssen dringend von dieser Form der Debatte wegkommen, bei der immer nur Pro- und Kontraargumente diskutiert werden und kein Raum für direkte Begegnungen gelassen wird. Im Gespräch gemeinsam etwas zu untersuchen, Nähe und Distanz auszuloten, trägt mehr zur Verständigung bei, als vorgefertigte Meinungen gegeneinander abzustellen.

Und das Sokratische Gespräch wäre eine geeignete Form dafür?

Das Sokratische Gespräch ist in gewissem Sinne nachhaltiger. Es geht um eine philosophieorientierte Vertiefung, die eine Bewusstseinsänderung zur Folge hat und aus der neue Handlungsmuster gewonnen werden können.

Gibt die Gesprächsführung auch die Dramaturgie des Stückes vor?

Genau. Es funktioniert nach dem sogenannten Sanduhrmodell. Oben, wo das Glas ganz gerade verläuft, formuliert die Gruppe ihre Fragestellung. Bei der Engstelle konzentrieren sich alle auf konkrete Erfahrungsbeispiele aus dem Teilnehmerkreis und arbeiten in der Zuspitzung das Wesentliche des Beispiels heraus. In der unteren Hälfte der Sanduhr wird es wieder allgemeiner, philosophischer. Dann geht es darum, welche allgemeinen Maßstäbe oder Werte das konkrete Handeln leiten.

War es sehr anders für Sie, mit Theatermachern zu arbeiten?

Insbesondere für die Performer war es neu, in dieser Struktur zu proben. Idee war es, im Probenprozess nicht wie üblich aus einer Vielzahl von spontanen Ideen ein Stück zu kreieren, sondern an eine grundlegende philosophische Reflexion anzuknüpfen. Das Sokratische Gespräch ist eine anerkannte Methode, über die es mittlerweile auch viel Literatur gibt. Fürs Theater ist es meines Wissens nach zum ersten Mal Grundlage gewesen.

//fs

Citsaug
COSMOS-1
Freitag, 22 Uhr
Ballhaus Ost Saal