Das 100° muss grauenhaft sein! Der Vorhof der Tausendmöglichkeitenhölle,
die Beihilfe zum Suizid für Entscheidungsschwache. Survival of the Fittest, haucht die freie Theaterszene heiß und
unheilvoll in meinen 100°-Debütantinnen-Nacken, und ich weiß nicht, was mir
mehr Angst macht: Der schirokkoartige Luftstrom, der Überforderung und
Wettbewerb verheißt und das Wasser in meinem Körper zum Sieden bringt, oder die
Unwissenheit darüber, was „die aus dem Off“ schon wieder mit mir vorhaben. Ich schwitze,
brauche dringend (bis morgen!) eine Strategie und wühle mich manisch durch alle
1OOWORT-Einträge meiner bloggenden Vorväter und -mütter. Aus den Fundstücken bastele
ich folgendes Regelwerk, das ich, während ich mit Birkenzweigen mein glühendes
Fleisch geißele, wie ein Mantra vor mich hinmurmele:
§1 Auftritte und Abgänge: Never just in time! Performances
stets nach Vorstellungsbeginn aufsuchen, vor dem Applaus wieder verlassen, nächste
crashen. Bei Langeweile sofort raus. Heißt für andere: Bestimmt wichtig, erlauchtes
Jurymitglied, ehrenwerte Kuratorin, junger aufstrebender Regisseur. Gedanken an
Vergleich mit Bildzeitungsschlagzeilenlektüre in der Kassenschlange
abschütteln, lieber von der Würdigung der besonderen VIP-Aura durch ein Foto von Henrike Iglesias oder die Zerstörung meines ganz persönlichen
Lieblingssongs durch Richi Rich träumen.
§2 Wahl der Unterwäsche angesichts der Unmöglichkeit
eines Wechsels während nicht vorhandener Programmlücken, bei gleichzeitiger
Wahrscheinlichkeit von Übergriffen auf meinen phänomenalen Zuschauerkörper in
Zeiten des allumfassenden Wunsches nach Überschreitung der Grenze zwischen
Bühne und Zuschauerraum unter Zuhilfenahme aller vier Elemente: die ungeblümte,
nichtweiße, comicapplikationslose, intransparente, möglichst zusammenpassende,
gut sitzende, also weder einschneidende, noch von Oma als ordentlicher
Schlüpfer betitelte, lochfreie. (Ähnliches gilt für Socken respektive
Strumpfhosen.)
§3 Unter Androhung des Nachsitzens auf Peters und Pauls
höchstliegender Schwitzstubenpritsche zu vermeidende Fragen im WAU und
an den Spielstättenbars: Sag mal, Performerbody, magst du mich von deiner
wolf-of-wall-street-reifen Künstlergage nicht mal zu nem Bier einladen? / Und – rentenversichert? / Geile Schafskopfmaske – was wolltest du mir eigentlich
damit sagen?
§4 Premierensekt/Nichtpremierensekt: Der erste
richtet auf. Der zweite hält konstant. Und so fort.
§5 Rückgriff auf Übergangsrituale, wissenschaftlich
dafür bekannt, noch jedes krisengeschüttelte Individuum in den Schoß der
Zivilisation zurückgeführt zu haben. Hier: Shuttlebusfahren unter Inkaufnahme
bzw. Billigung der gedanklichen Echolalie einschlägiger Zeilen aus den
Demobändern. Beichtstuhlbesuche beim Klub der Kavaliersdelikte.
Unterbewusstseinskritzeleien an den vorgesehen Stellen im Programmheft.
§6 Urteil: Endlich mal selber „Dschüri“ sein. Gnadenlos
für den Publikumspreis abstimmen. Winterolympiadenmentalität ablegen. Eher à la
Wolfgang Joop: „Du bist ein Performer, der besser zu Hause aufgehoben ist.“
//fs